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Annie Toimi hat ihren Koffer gepackt. Sie macht sich auf zu einer langen beschwerlichen Reise zu ihrer Familie ins finnische Tornedal. Sie ist schwanger mit einem Kind, dass sie vielleicht nicht will. Von einem Mann, den sie vielleicht nicht liebt. Sicher weiß sie aber, was sie am Ziel ihrer Reise erwarten wird: ein konfliktbeladenes Weihnachtsfest. Denn schließlich bergen elf Geschwister eine Menge Sprengstoff.
Die Atmosphäre in ihrem Elternhaus ist eine Katastrophe. Ihre Mutter ist lieb und fürsorglich. Aber der Vater ist ein unfreundlicher, bösartiger, misanthropischer Kauz, für den seine Kinder lediglich billige Arbeitskräfte darstellen. Und Vaters Wort gilt – selbst, wenn seine Worte nicht besonders schön sind.
Und es kommt, wie es kommen muss. Einer der jüngeren Brüder verbrüht sich an einem Waschkessel so schwer, dass er in Begleitung seiner Mutter ins Krankenhaus muss.
Und die Geschwister schmieden einen folgenschweren Plan.
Inhaltsverzeichnis
Die Autorin Nina Wähä
Die Schwedin Nina Wähä, Jahrgang 1979 hat bulgarische und finnische Wurzeln. Ihre Mutter stammt aus einer Großfamilie im finnischen Tornedal. Dort verbrachte die Autorin häufig ihre Sommerferien und lernte bei dieser Gelegenheit nicht nur Finnisch, sondern auch das exotische Meänkieli.
Nina Wähä ist Sängerin in der schwedischen Indie-Pop-Band Lacrosse und arbeitete zudem als Schauspielerin. Ihr Debut als Schriftstellerin feierte sie 2007, mit dem vorliegende Roman schaffte sie es endlich auch in die deutschen Buchläden.
Vaters Wort und Mutters Liebe – Meine Meinung
Wer wie ich als Einzelkind in einer Kleinfamilie aufgewachsen ist, kennt wahrscheinlich den Wunsch nach Geschwistern.
Aber eine vierzehnköpfige Familie ist natürlich ein bisschen viel des Guten. Dabei müssten zu den zwölf Kindern auch noch zwei verstorbene Geschwister dazugezählt werden.
Hilfreich ist in diesem Zusammenhang das dem Buch beiliegende Lesezeichen. Denn mit seiner Hilfe gelingt es dem Leser, Lauri, Esko, Helmi, Tarmo, Hirvo, Voitto und wie sie alle heißen, im Überblick zu behalten.
Der Prolog erinnert ein bisschen an ein Programmheftchen einer Theaterbühne. Hier werden die einzelnen Protagonisten vorgestellt und ein bisschen etwas über den Schauplatz im nördlichen Skandinavien erzählt. Auch die einzelnen Kapitel tragen Titel, die an ein Drehbuch erinnern. Zum Beispiel Kapitel 1 nennt sich „The Cast, The Scenery“. Dabei fällt auf, dass die Autorin gerne einmal Anglizismen einstreut, wie
„Annie fuhr nach Hause. Das heißt, nach Kuivaniemi. Ihr Zuhause war das nicht, that’s for sure„
Dieses Stilmittel mag für die junge Frau passend sein. In einem Roman, der zu Beginn der 80er Jahre spielt, finde ich es störend.
Der Titel
Nach meiner Meinung arbeitet in manchen Verlagshäusern ein Depp, der immer dann gefragt wird, wenn man einen ganz besonders blöden Buchtitel sucht. Von einem solchen Deppen erhielt dieser Roman den sperrigen Titel in der deutschen Übersetzung. Mir ist es unbegreiflich, warum man sich nicht an dem schwedischen Originaltitel Testamente orientieren konnte.
Vaters Wort und Mutters Liebe klingt nach familiären Heimatkitsch und ist bestenfalls nichtssagend. Aber es geht hier tatsächlich um ein Testament – im tatsächlichen und übertragenen Sinn.
Die Großfamilie
Was man als Einzelsproß einer Kleinfamilie gerne mal übersieht ist, dass jedes Familienmitglied seinen eigenen Mikrokosmos darstellt. Bei einer zwölfköpfigen Kinderschar ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit etlichen seiner Geschwister nicht zurecht kommt, relativ hoch. So ist es auch hier. Es bilden immer nur einzelne der Kinder Allianzen – meist gegen Vaters Wort, das häufig derb und verletzend ist.
Bezeichnend ist, dass die meisten der erwachsenen Kinder gar nicht schnell genug das eigentlich idyllischen Tornedal verlassen können. Raus aus der Enge, dem Lärm, dem Ärger und der vielen Arbeit.
So wird über Tatu, dem zweitältesten Sohn gesagt:
„… und obwohl der das Rallyefahren und Saufen vermisste, war es ihm nie so gut gegangen wie in der Justizvollzugsanstalt Keminmaa.“
Der Sowjetisch-Finnische Krieg (Winterkrieg)
Ein wichtiges Element des Romans ist der Winterkrieg 1939-1940 zwischen der Sowjetunion und Finnland. Entlang der gemeinsamen Grenze gab es auch schon früher Grenzstreitigkeiten und Zwangsumsiedlungen der dortigen Bewohner. Dies eskalierte dann im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Und vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung lernen Siri und Pentti – Mutter und Vater kennen. Siri, die halbverhungerte und ungeliebte Tochter trifft zu dieser Zeit auf Pentti, den schneidigen Soldaten und heiratet ihn. Eigentlich stünde ihre Ehe unter einem guten Stern.
Aber letztendlich scheitern sie durch ihre Unerfahrenheit, Unvernunft und Fahrlässigkeit.
Krimi oder Familienepos?
Im weiteren Verlauf der Erzählung scheint sich die Autorin nicht einig gewesen zu sein, ob sie nun an einer Kriminalgeschichte oder einem Familienepos schreibt.
Nachdem sie über etliche Seiten hinweg das Leben und Seelenleben der einzelnen Familienmitglieder zerpflügt hat, könnte man bei Kapiteln mit der Überschrift „Murder“ oder „Who done it“ etwas mehr Spannung erwarten. Diese würde sich durchaus aus der Trennung der Eltern und dem Tod des Vaters ergeben. Zu viel müsste aufgeklärt und aufgearbeitet werden!
Hin und wieder flackert dann auch mal etwas Spannung auf. Um dann gleich wieder zu verlöschen.
Mein Fazit zu Vaters Wort und Mutters Liebe
Mir hat die Schilderung dieses Soziokosmos tatsächlich sehr gut gefallen. All diese kleinen und großen Dramen, Schicksale und Lebenswege von so vielen höchst unterschiedlichen, aber dennoch verbundenen Menschen ist wirklich sensationell. Der Roman ist sehr facettenreich, die Atmosphäre so dicht, wie in der dunstigen Küche einer Großfamilie.
Aber dennoch läuft in diesem Roman einiges falsch, besonders ab dem Zeitpunkt, ab dem sich die Mutter von ihrem Mann trennt. Sie geht damit äußerst passiv auf die Forderungen ihrer älteren Kinder ein. Und lebt ab sofort glücklich und zufrieden in einem kleinen Häuschen in der Nachbarortschaft. Dabei entdeckt sie an sich sogar etwas wie Sexappeal, was man nach vierzehn Schwangerschaften und einem Leben voller harter Arbeit nur schwer vorstellbar ist.
Auch der Vater wirkt plötzlich fast altersmilde. Er zahlt seiner Frau die Hälfte des Vermögens aus und lässt sich von seinem ältesten Sohn Esko bei der Übergabe des Hofs über den Tisch ziehen.
Dieser Verlauf wirkt wie mit einer heißen Nadel gestrickt.
Aber eigentlich kann man diese Widersprüchlichkeiten als Schönheitsfehler verbuchen. Denn ich bin ja auch ein wenig pingelig.
Tatsächlich habe ich dieses Buch sehr gerne gelesen. Es eignet sich zum Schmökern und darin Versinken, wie kein zweites.
Was ich aus diesem Roman aber habe mitnehmen können, sind die Gedanken von Annie.
Es sind nicht nur die Gene, die man an seine Kinder weitergibt. Die charakterliche Entwicklung eines Menschen ist auch noch von anderen Faktoren abhängig.
Und es kommt immer darauf an, was man daraus macht.
Wem könnte dieses Buch gefallen?
- Liebhabern von groß angelegten Familiengeschichten
- Leser, die Erzählungen aus fremden, unbekannten Regionen lieben
- Freunde von Schicksalsromanen
Für wen wäre dieses Buch eher nicht geeignet?
- Leser, die sich von einem Buch mehr Action erwarten
- Liebhaber von Krimis und Thrillern
- Leser, die sich von einem Schicksalsroman mehr Liebe und Romantik wünschen würden
Bibliografisches zu dem Roman „Vaters Wort und Mutters Liebe“
- Titel: Vaters Wort und Mutters Liebe
- Autor: Nina Wähä, Antje Rieck-Blankburg (Übersetzung)
- Originaltitel : Testamente
- Herausgeber : Heyne Verlag (22. Juni 2020)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 544 Seiten
- ISBN-10 : 3453272870
- ISBN-13 : 978-3453272873
- Preis Stand Februar 2021: 22,00 Euro (Gebundenes Buch), 14,99 Euro (Kindle)
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(Alle Angaben ohne Gewähr)
Berühmte letzte Worte
Dies ist die Buchvorstellung eines nicht sehr bekannten, aber in der Presse bereits gelobten Romans. Kanntet ihr ihn schon oder habt von ihm gehört?
Mein besonderer Dank gilt der Bloggerin Ines Meyrose, ohne die ich auf dieses Buch nie aufmerksam geworden wäre.
Vorschau auf die nächsten Artikel
Für alle Yogafreunde wird am Montag, den 1. März auf meinem Blog MondYoga die Asana des Monats gekürt.
Und am folgenden Donnerstag bin ich hier wieder mit den Coolen Blogbeiträgen an der Reihe.
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Text: Vaters Wort und Mutters Liebe – Ein Roman von Nina Wähä ©sabienes-welt.de
Alle Fotos: Vaters Wort und Mutters Liebe – Ein Roman von Nina Wähä ©sabienes-welt.de
Ich kann dich ganz gut verstehen. Mir fallen solche „Schönheitsfehler“ usw. auch gerne auf und nerven mich ein wenig. :D Ich bin da wohl auch etwas pingelig.
Aber letztlich kann mir die Geschichte dann trotzdem gut gefallen.
@Christine: Es handelt sich trotzalledem um einen respektablen Roman.
LG
Sabiene
Freut mich, dass Dir mein Lesetipp gefallen hat! Ich fand erstaunlich, dass es mir trotz der riesigen Familie möglich war, der Handlung und den einzelnen Personen zu folgen. Deine Schönheitsfehler habe ich gar nicht so empfunden, aber es liest ja jeder mit einer anderen Sichtweise.
Du bist Einzelkind? Das hat immense Vorteile, die man als Geschwisterkind nie genießen darf! Du weißt ja – man wünscht sich gerne das, was man nicht hat …
@Ines: „… Du weißt ja – man wünscht sich gerne das, was man nicht hat … “ Das ist wohl ein generelles Naturgesetz! ;-)
LG
Sabiene
Klingt nach einer tollen Geschichte. Auch das dezente Cover finde ich sehr ansprechend. LG Romy
@Romy: Schau dir mal das Cover in der Vergrößerung an! Diese Ornamente beziehen sich auf etwas, was ich nicht zuordnen konnte und zwar das Bild des Rattenkönigs. Ich glaube, damit ist der harte Kern der ältesten Geschwister gemeint, die im Verlauf der Geschichte wortführend sind.
LG
Sabiene